Otto Böckel wurde am 2.7.1859 in Frankfurt/Main geboren. Schon als Marburger Student bekam er bei seinen Forschungen über das deutsche Volkslied einen tiefen Einblick in die Not der hessischen Landbevölkerung. Geschichten, wie die eines jüdische Bodenaufkäufers, der 1883 einen ehemals wohlhabenden Landwirt in Nordeck um Haus und Hof gebracht hatten, woraufhin der Landwirt einen Juden erschlug prägten ihn früh. Der nach der Promotion zum Hilfsbibliothekar (heute Assessor) ernannte Otto Böckel beschloß deshalb, sich "ohne Rücksicht auf Karriere und Zukunft" der Bauern anzunehmen und sich in die Politik zu stürzen.
Nach mehrjährigem Studium der einschlägigen Literatur war er 1886 maßgeblich an der Gründung der "Deutschen Antisemitischen Vereinigung" in Kassel beteiligt, schrieb Artikel und Gedichte für antisemitische Zeitungen und veröffentlichte Broschüren, zunächst noch unter dem Decknamen Dr. Capristano. 1886 erschienen Werke wie: "Die europäische Judengefahr. Sonnenklar beleuchtet" und "Die Juden, die Könige unserer Zeit". Am 26.8.1886 wurde Böckel Vorsitzender des von ihm gegründeten Deutschen Reformvereins in Marburg, welcher 1911 in eine Ortsgruppe des Reichsverbandes der Deutschsozialen Partei umgewandelt wurde.
Am 30.9.1886 sprach er zum 1. Mal öffentlich im Café Quentin in Marburg. Als die Lokalpresse über Böckel eine Annoncensperre verhängte, gründete er einen Monat vor den Reichstagswahlen den "Reichsherold". In seinen Wahlprogrammen forderte Böckel die Aufhebung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden und die Schaffung von Fremdenrechten für diese. Er versprach den Arbeitern bessere Löhne, den Handwerkern Hilfe beim Zusammenschluß gegen die Großkonkurrenz und den Bauern Unterstützung im Kampf gegen Wucher und Güterschlächterei. Böckel verlangte eine progressive Reicheinkommenssteuer, den Maximalarbeitstag sowie Beschränkung der Frauen- und Verbot der Kinderarbeit in Bergwerken und Fabriken. In Vorbereitung auf die Wahlen der Reichstagsabgeordneten führte er einen bis dahin unbekannten Stil des politischen Kampfes mit Versammlungen, Flugblättern und systematischer Mundpropaganda durch.
Am 21.2.1887 zog Dr. Otto Böckel im Alter von 27 Jahren im 1. Anlauf mit 7411 Stimmen als erster erklärt antisemitischer Abgeordneter in den Reichstag ein. Als "hessischer Bauernkönig" setzte er sich sehr für die Bauern ein und mit ihm begann der bäuerliche Antisemitismus. Mit Böckel erhielt die antisemitische Bewegung im ganzen Reich neuen Aufschwung und von Wahlperiode zu Wahlperiode zogen mehr antisemitische Abgeordnete in den Reichstag ein. Auch Böckel ließ es nicht bei seiner Parole: "Bauern, macht euch frei vom jüdischen Zwischenhandel" bewenden, sondern errichtete bäuerliche Einkaufs- und Absatzgenossenschaften, Spar- und Darlehenskassen sowie ein Rechtsbüro in Marburg. Die Spar- und Darlehenskassen faßte er 1890 in der Dachorganisation seines "Mitteldeutschen Bauernvereins" zusammen. Böckel führte "judenfreie Viehmärkte" ein und organisierte Handwerker und Arbeiter im "Mitteldeutschen Handwerkerverein". Nach den Worten des späteren Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses Nahum Goldmann war Böckel "von allen Antisemitenführern "der einzige, der sich bemühte, positiv zu arbeiten" und "mit Leidenschaft freiheitliche und demokratische Prinzipien innerhalb des Antisemitismus vertrat". Unter den Bauern galt er als der Erlöser.
Böckel gewann, entgegen den Erwartungen seiner Gegner auch die nächsten Reichstagswahlen mit wachsender Stimmenzahl: 1890 mit 8739 gegen 3361 Stimmen des konservativen Universitätskurators Steinmetz und 1893 mit 8778 gegen 3962 Stimmen des konservativen Landwirts Lucke. Doch bei Debatten im Reichstag fehlte ihm die eigentliche Sachkenntnis, und er versagte völlig. Außerdem hatten sich die anderen Reichstagsabgeordneten gegen ihn, als einzigem Antisemiten verschworen. Als es aber im Reichstag eine antisemitische Fraktion gab, war diese sich so uneinig, daß sie bei jeder Abstimmung auseinanderfiel.
Auf den "judenfreien Viehmärkten", die Böckel ins Leben gerufen hatte, wurde fast kein Vieh umgesetzt, und auch die von ihm begründeten Zeitungen wurden notleidend. Auch Böckels Privatleben, nämlich seine Alimentenprozesse und wahrscheinlich mehrere unehliche Kinder, wurde genau unter die Lupe genommen und ausgeschlachtet. Aufgrund seiner Eigenwilligkeit und Geschäftsunfähigkeit machten sich seine Organisationen selbständig, und 1894 mußte Böckel vom Vorsitz des "Mitteldeutschen Bauernvereins" zurücktreten.
1898 gewann er seinen letzten Wahlkampf für den Reichstag mit 5517 gegen 4940 Stimmen. Da Abgeordnetendiäten erst 1906 eingeführt wurden, mußte Böckel um seine wirtschaftliche Existenz ringen und verzichtete 1903 auf eine erneute Kandidatur. In der Reichstagswahl 1912 kam er mit 13.8% der Stimmen nicht einmal mehr in die Stichwahl. Als Angestellter arbeitete Böckel von 1897 bis 1899 im statistischen Büro des Bundes der Landwirte, wo er auch am Agrarischen Handbuch des Bundes der Landwirte mitwirkte.
Am 17.9.1923 starb er einsam, gelähmt und seelisch gebrochen in Michendorf. Doch "ein Jahrzehnt später sollte die von ihm und seinen Parteigenossen in jahrelanger Verhetzung gesäte Saat furchtbar aufgehen."
Literatur: Erhart Dettmering/Rudolf Grenz (Herausgeber): "Marburger Geschichte - Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen", Marburg 1980, S. 482ff.
Zusammengestellt von Sabine Dietzsch
© 2018 Uhde@staff.uni-marburg.de, Stand: 08.08.2018