SOS für die deutschsprachigen Archivbestände in Ostmitteleuropa?

Über diesen Befund diskutierten vom 19. bis 20. November die Teilnehmer der Konferenz „SOS Archival Literacy in Ostmitteleuropa?“ – Kompetenz und Qualifikation für den Umgang mit deutschsprachigem Archivgut in ostmitteleuropäischen Archiven, die von der Archivschule Marburg – Hochschule für Archivwissenschaft, vom Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung und dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung organisiert wurden.

Die Teilnehmer, zumeist Wissenschaftler und Archivare aus den betreffenden ostmitteleuropäischen Ländern, erarbeiteten am ersten Tagungstag einen Problemaufriss in Form von Länderberichten. Dabei wurde deutlich, dass für die deutschsprachigen Bestände sowohl die Sprach- wie auch die zugehörigen Paläographie-Kenntnisse stark auf dem Rückzug sind, bei Archivaren wie bei Nutzern.

© Herder-Institut, Claudia Junghänel

Es fehlt an deutscher Sprach- und Paläographiekenntnis

PETER HASLINGER, Direktor des Herder Instituts, ergänzte diesen thematischen Rahmen der Konferenz um den Hinweis auf die gleichzeitige Digitalisierung in der Archivlandschaft: Dem derzeitigen digitalen Wandel des Archivs stehe ein oft noch analoges Materialverständnis gegenüber. Dies führe zu einer zunehmenden Spreizung mit spezifischen Problemlagen für das Archiv. KARSTEN UHDE als Studienleiter der Archivschule Marburg, beschrieb die bestehenden internationalen Ausbildungsnetzwerke der Archivschule, die auch für Ostmitteleuropa wünschenswert wären.

Im weiteren Tagesverlauf wurde über die dringendsten Problemlagen für die deutschsprachigen Bestände in den verschiedenen Ländern diskutiert, eine polnische Umfrage zu den bestandsspezifischen Kenntnissen unter Mitarbeitern, Nutzern und Auszubildenden wurde vorgestellt, und die Möglichkeiten von Digitalisierung und grenzüberschreitender Aus- und Fortbildung wurden erörtert. Dabei wurde auch deutlich, dass trotz vergleichbarer Problemlagen, die unterschiedliche Regionalgeschichte ebenso wie der gegenwärtige teils große politische Einfluss auf die Archive der ostmitteleuropäischen Länder zu unterschiedlichen Auswirkungen auf die Archive führt.

 

© Archivschule Marburg, Christian Rausch

Konstellation schwierig für Drittmittelanträge

Am zweiten Konferenztag wurden in Workshops zu Sprache und Quellenkritik sowie zum Wandel von Nutzererwartungen übergreifende Lösungsansätze erarbeitet. Impulse hierfür lieferten zwei Expertenvorträge, einer mittels eines Best-Practice-Beispiels und der zweite in Form der theoretischen Beleuchtung naheliegender Lösungsansätze in den sich wandelnden Geisteswissenschaften.

MANFRED VON BOETTICHER eröffnete den Konferenztag mit einem Erfahrungsbericht zu seinen Lehrveranstaltungen in Riga, in denen anhand eines landeshistorischen Themas an deutschsprachigen Quellen gearbeitet werden konnte. Seine Veranstaltungen erfuhren ein sehr großes Interesse, und auch Archivmitarbeiter nahmen trotz teils weiter Anreisen daran teil. Interesse an deutscher Sprache und Paläographie, so VON BOETTICHER, entstehe bei seinen Studierenden erst nach dem Studium, wenn sie mit deutschsprachigen Archivbeständen arbeiten müssten. Er betonte auch die Schwierigkeiten einer Finanzierung durch Drittmittel, zumal die Zuständigkeit für die Mittelvergabe zwischen Goethe-Institut und DAAD diesen speziellen Fall nicht abdeckt.

© Archivschule Marburg, Christian Rausch

Hoffnungsträger: Digitalisierung und transnationale Fortbildungsnetzwerke

MAREIKE KÖNIG, im Deutschen Historischen Institut Paris Abteilungsleiterin für Digital Humanities, referierte zum Thema Quellenkritik und historischer Forschung im digitalen Zeitalter. Es bedürfe zukünftig einer digitalen Quellenkunde, die die veränderte Materialität und eigene Medialität digitaler Quellen berücksichtige. Viel wichtiger werde zukünftig das Records Management des kompletten Verwaltungsweges, schon wegen des Beweiswerts solcher Unterlagen. Zukünftig würde eine ganze Reihe neuer Kompetenzen erforderlich, und es müsse zu einer Öffnung seitens der Archive für neue Formen der Nutzung kommen.

Abschließend wurde darüber diskutiert, auf welche Weise die Initiative von Herder-Institut und Archivschule Marburg zu diesem Thema fortgeführt werden könnte. Es wurde einhellig begrüßt, das Thema in diesem Kreis zu vertiefen. Die Entwicklung von Tools und Publikationen in länderübergreifenden Projekten wurden vorgeschlagen, die Veröffentlichung eines deutschsprachigen Grundwortschatzes gefordert, und es bestand der Wunsch, zum Kongressthema im Rahmen des Erasmus Plus-Programms für Lebenslanges Lernen ein europäisches Projekt zu entwickeln. Hierzu böte der Doppelstandort Marburg mit den Trägerinstitutionen der Archivschule Marburg und des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung im Verbund mit der Universität Gießen ideale Voraussetzungen.

Die Tagung wurde ebenfalls dokumentiert als Blog-Beitrag auf den Seiten des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung sowie im VDA-Blog.


zurück