Forum Heft 5

Inhaltsverzeichnis:

Editorial von Menne-Haritz

De Jonge Chartermeesters in Marburg von Nils Brübach

Archivarsausbildung in den Niederlanden. Betrachtungen eines Versuchskaninchens von Susanne Neugebauer

Chinesische Archivdelegation besucht Archivschule Marburg von Rainer Polley

Die Archivschule im Internet von Karsten Uhde

Ad-hoc-Commission Terminologie von Menne-Haritz

Der 30. Wissenschaftliche Kurs ist eröffnet von Nils Brübach

Verzeichnung des 29. Wissenschaftlichen Kurses von Jörg Ludwig

Pilsen - Prag - Eger. Studienfahrt des 29. Wissenschaftlichen Kurses in die Tschechische Republik von Martin Burkhardt, Michael Scholz, Michael Schütz

Stage des 29. Wissenschaftlichen Kurses am Bundesarchiv von Christiane Pfanz-Sponagel 

Der 33. Fachhochschulkurs der Archivschule Marburg von Karsten Uhde

Intensivwoche Historische Hilfswissenschaften des Mittelalters im 32. FK von Michael Hollmann

Bayern-Exkursion des 32. Fachhochschulkurses vom 4. - 8. September 1995 von Udo Müller

Fronhausen/Lahn - Einblicke in die Ortsgeschichte. Erfahrungsbericht einer Ausstellung von Ilona Gotthardt, Beate Slomski

Hamburger Archivtag 1995. Forum gehobener Dienst von Udo Müller

Mit Cha-Cha-Cha durch das Archivschuljahr. Tanzkurs des 32. Lehrgangs des gehobenen Dienstes an der Archivschule Marburg von Carola König, Joachim Kressin

WS 4: Managementfragen im Archiv von Freifrau von Boeselager

Das Fortbildungsangebot der Archivschule Marburg im Jahre 1996 im Überblick von Christa Kieselbach

AK 5: Eindrücke eines Teilnehmers aus der Fortbildung: Vom Aktenplan zur Büroautomation vom 16. bis 20. Oktober 1995 von Udo Schäfer

Mitteilungen aus der Verwaltung von Eckard Zissel

Aus der Bibliothek von Nils Brübach, Michael Menard

Chronik

Liebe Leserin, lieber Leser,

zum Ende des Jahres 1995 übersenden wir Ihnen die 5. Ausgabe unseres Forums. Auch in diesem Heft informieren wir Sie mit interessanten Beiträgen aus dem Geschehen der Archivschule.

"De jonge Chartermeesters" - die Absolventenvereinigung der niederländischen Archivschule in Den Haag - besuchte die Archivschule Marburg vom 8. - 10.10.1995. Eine Teilnehmerin dieser Vereinigung berichtet über die Archivarsausbildung in den Niederlanden.
Wir informieren über das Internet-Angebot der Archivschule sowie über die Ad-hoc-Commission Terminologie des Internationalen Archivrates. die vom 4. - 6.10.1995 an der Archivschule tagte.

Das Institut für Archivwissenschaft stellt sich mit Beiträgen zur Eröffnung des 30. wissenschaftlichen Lehrgangs am 1.11.1995 sowie zur Verzeichnungsübung an Akten des Gesamtverbandes der Evangelischen Kirchengemeinden Kassel, die der 29. wiss. Lehrgang durchführte, vor. Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 29. wiss. Lehrgangs berichten über die Studienfahrt in die Tschechische Republik sowie über den sechswöchigen Stage am Bundesarchiv.

Die Fachhochschule informiert über den Beginn des 33. Fachhochschul-Lehrgangs am 2.10.1995. Es folgen Beiträge über eine "Intensivwoche" Unterricht im Fach Historische Hilfswissenschaften des Mittelalters, die Bayernexkursion sowie das Projekt "Fronhausen - Einblicke in die Ortsgeschichte" des 32. Fachhochschul-Lehrgangs.
Weiter folgt ein Beitrag zum Deutschen Archivtag in Hamburg 1995 betreffend den "Arbeitskreis gehobener Dienst".

Wir geben einen Überblick über das Fortbildungsprogramm der Archivschule für 1996.
Eine Teilnehmerin sowie ein Teilnehmer zweier Fortbildungen berichten über ihre Eindrücke und Erfahrungen.
Ferner informieren wir Sie über Neues aus der Verwaltung sowie eine Auswahl von Neuerwerbungen der Bibliothek.
In einigen Zeitungsausschnitten stellen wir Ihnen die Resonanz der Presse auf Ereignisse an der Archivschule vor, und unsere Chronik gibt einen Überblick über das Geschehen und die Aktivitäten der Archivschule in den letzten sechs Monaten.
Zum Weinachstfest und dem bevorstehenden Jahreswechsel wünsche ich Ihnen Frieden und Zuversicht.

Ihre Angelika Menne-Haritz


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De jonge Chartermeesters in Marburg

"De jonge Chartermeesters - wer oder was ist das?" So war wohl mein erster Gedanke, als im Juli diesen Jahres das Fax von Jos Hopstaken, Stadtarchivar in Rosendaal und Nispen, bei uns einging. Er fragte an, ob einige Kolleginnen und Kollegen aus den Niederlanden im Herbst die Archivschule besuchen könnten. Aufklärung brachten zwei kurz darauf folgende Briefe: "De jonge Chartermeesters" ist die Absolventenvereinigung der niederländischen Archivschule in Den Haag, in der sich die jungen Archivarinnen und Archivare zu Beginn ihres Berufslebens zusammenfinden, um sich untereinander zu helfen und um vor allem durch Exkursionen ihre Kenntnisse und ihren fachlichen Horizont zu erweitern. Sie existierten seit Ende der sechziger Jahre als Plattform im Königlichen Verein niederländischer Archivare. "Chartermeester" - eine treffende Übersetzung wäre "Aktenmeister" - ist zudem ein Dienstrang innerhalb des höheren Archivdienstes in den Niederlanden, dem deutschen "Archivdirektor" vergleichbar.

Ich war sofort Feuer und Flamme - bot sich doch hier die Gelegenheit, nach München und Wien nunmehr eine dritte europäische traditionsreiche archivarische Ausbildungsstätte und Berufseinsteiger kennenzulernen. Es erschien mir allerdings bemerkenswert, daß Absolventen einer Archivschule sich auch noch nach ihrem Examen als Archivpraktiker (also nicht nur als Archivschul-Dozenten) für eine andere Ausbildungseinrichtung interessieren - ein Ansatz, der m. E. Schule machen sollte, denn daß wir über Grenzen hinweg voneinander lernen können, fast die gleichen Probleme haben, und daß ein intensiver Kontakt der europäischen Archivschulen insbesondere auf der Ebene der Studierenden und des Lehrpersonals helfen kann, neue gemeinsame Strategien zu entwickeln und helfen kann, Fehlentwicklungen zu vermeiden - das zeigten die drei Besuchstage in eindrucksvoller Weise.

Kern des Besuchsprogramms der insgesamt neun niederländischen Kolleginnen und Kollegen war das Kolloquium am 9. Oktober. Frau Dr. Menne-Haritz begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und gab in ihrem Einführungsvortrag eine kurze Übersicht über die Archivarsausbildung in Deutschland, seitdem im Jahre 1894 in Marburg die erste Prüfungskommission für wissenschaftliche Archivare in Preußen gegründet worden war. Ihr antwortete Susanne Neugebauer, "hoge Archiefsamtenaar" - Anwärterin für den höheren Archivdienst in den Niederlanden. Ihr Beitrag (er ist nachfolgend abgedruckt) war sicher einer der Höhepunkte - solche Innenansichten, wie sie Susanne uns bieten konnte, erhält man selten. Prof. Polley und ich selbst stellten in unseren Referaten den für Ausländer erklärungsbedürftigen Status des "Beamten auf Probe" während der Ausbildungszeit sowie Struktur und Lehrinhalte in den Referendar- und Fachhochschulkursen vor.

Die anschließende Diskussion kreiste vor allem um das neue Konzept der Archivarsausbildung in Amsterdam: Ist es tatsächlich sinnvoll, die geschichtswissenschaftlichen Grundlagenfächer in dem Maße zu reduzieren, wie es in den Niederlanden jetzt geschieht? Und - ist sichergestellt, daß durch Anbindung der Archivarsausbildung an den Fachbereich Informationswissenschaften spezifische Kenntnisse und die Fähigkeit, strategische fachliche Entscheidungen kompetent treffen zu können, über die jede Archivarin/jeder Archivar verfügen muß, tatsächlich noch vermittelt werden? Gerade im Hinblick auf diesen zweiten Punkt herrschte auch unter den Niederländern Skepsis. Die Marburger Ausbildung in ihren zwei Strängen war ihnen ansonsten recht vertraut: Gleicht sie doch in vielem dem, was bis 1993 auch in Den Haag üblich war. Neu war ihnen das Fortbildungsprogramm: Es stieß nicht nur auf großes inhaltliches Interesse, sondern im Konzept kontinuierlicher Wieiterbildung wurde die Chance erkannt, gerade auch jüngeren Archivarinnen/-en einen Einstieg in spezielle Wissensgebiete und Aufgabenbereiche zu geben.

Der Besuch der "jonge Chartermeesters" wurde durch Besichtigungen des Hessischen Staatsarchivs Marburg und des nordrhein-westfälischen Hauptstaatsarchivs Düsseldorf abgerundet. Die Offenheit des Gesprächs und die angenehme Atmosphäre - zu der in entscheidendem Maße Professor Polley und seine diskrete Generosität beitrugen - wofür ihm an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich gedankt sei -aber auch die offene, sachbezogene, pragmatische Diskussion lassen hoffen, daß die geknüpften Kontakte erhalten bleiben und es bald zu einem informellen Gegenbesuch junger deutscher Archivare in den Niederlanden kommt. Die Entwicklung, die der Archivarsberuf und in Sonderheit die Archivarsausbildung in unserem Nachbarland nimmt, sind zu interessant und zu wichtig, als daß man sie ignorieren könnte.

De jonge Chartermeesters - Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Marburg-Exkursion:

  • Susanne Neugebauer, Amsterdam
  • Margreet Windhorst, Utrecht
  • Janny Steenhuis, Amsterdam
  • Robert J. Hageman, Oegstgeest
  • Jan Fernhout, Leiden
  • Jos Hopstaken, Roosendaal
  • Frank van der Maden, Houten
  • Andre Nieuwlaat, Roosendaal
  • Frank Hulst, Amsterdam (Etten-Leur)

 

Programm für den Besuch der "Jonge Chartermeesters

Sonntag, 8.10.1995
bis 15.00 Uhr Anreise
15.00 Treffen vor der Archivschule. Stadtführung "Marburg" durch Archivdirektor Prof. Dr. R. Polley
17.30 Treffen mit Absolventen der Archivschule Marburg sowie Teilnehmern der laufenden Kurse
ca. 19.00 gemeinsames Abendessen

Montag, 9.10.1995
8.30 Begrüßung durch die Leiterin der Archivschule Marburg, Frau Ltd. Archivdirektorin Dr. A. Menne-Haritz, Eröffnungsvortrag: "Archivarsausbildung in Deutschland - Wandel, Chancen, Perspektiven"
9.00 Vortrag von Frau S. Neugebauer, Nederlandse Rijksarchiefschool, "Archivarsausbildung in den Niederlanden"
9.40 Vortrag von Archivrat z. A. Dr. N. Brübach, Dozent an der Archivschule: "Practice Makes Perfect, Theory Makes Theorists? - curriculum und Unterricht an der Archivschule"
10.00 Kaffeepause
10.30 Vortrag von Archivdirektor Prof. Dr. R. Polley, Studienleiter der Archivschule "Zwei Wege - Ein Ziel: Die postgraduale und die Fachhochschulausbildung und die Praxis
ab 11.00 Diskussion
12.30 Empfang in den Räumen der Archivschule, Mittagessen, Besichtigung des Landgrafenschlosses und Fahrt nach Amöneburg

Dienstag, 10.10.1995
9.00 Besichtigung des Hessischen Staatsarchivs Marburg bis ca. 11.00
14.30 Besichtigung des Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchivs Düsseldorf

Nils Brübach

 


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Archivarsausbildung in den Niederlanden. Betrachtungen eines Versuchskaninchens

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
als eines der jüngsten Mitglieder der "jungen Aktenmeister" stehe ich hier vor Ihnen. "Junge Aktenmeister", das ist die wortwörtliche Übersetzung für "de jonge Chartermeesters", der Exkursionskommission der Plattform für neuausgebildete Archivare des Königlichen Vereins Niederländischer Archivare.

Meine Aufgabe ist es, Ihnen in einer kurzen Übersicht darzustellen, wie in den Niederlanden Archivare ausgebildet werden. Die Archivschule in Den Haag konnte letztes Jahr 75-jähriges Bestehen feiern. Seit dem Beginn der neunziger Jahre finden in Aufbau und Organisation der Ausbildung grundlegende Veränderungen statt. Man versuchte sich dabei Rechenschaft abzulegen über die Tatsache, daß immer weniger ausgebildete Archivare eine Beschäftigung als herkömmliche Archivare im staatlichen Dienst finden. Wo der Staat sie brauchen könnte - als Ratgeber in der Organisation einer modernen Informationsgesellschaft - sind sie durch die bisherigen Ausbildungsinhalte zu wenig vorbereitet.

Die Komponenten Rechtswissenschaft, Historische Hilfswissenschaften, Geschichtswissenschaften und die Organisation staatlicher und privater Verwaltung konstituieren die Archivwissenschaft. In welchem Verhältnis diese Komponenten zueinander stehen, ist ein Diskussionspunkt, der auch in der Geschichte der Archivarsausbildung in den Niederlanden von Anfang an eine Rolle spielte.
1. Ich werde deshalb zuerst auf die Anfänge der Archivausbildung in den Niederlanden eingehen und ihre Entwicklung bis Ende der achtziger Jahre grob skizzieren.
2. In einem zweiten Abschnitt werde ich schildern, wie die Ausbildung Anfang der Neunziger Jahre aussah und wie ich als auszubildende Archivarin des höheren Dienstes im Schuljahr 1993/ 1994 der Reichsarchivschule in Den Haag den Prototyp einer inhaltlich völlig neu strukturierten Ausbildung antraf.
3. Mittlerweile sind die neuen Inhalte auch in eine neue Form gegossen worden. Mit dem Verlassen der alten Ausbildungsorganisation werden neue Akzente innerhalb der Archivwissenschaft gesetzt. Darauf werde ich im dritten und letzten Teil meiner Übersicht eingehen.

Nun zum ersten Punkt: der Geschichte der Archivausbildung in den Niederlanden.
Im Jahre 1891 wurde der Verein Niederländischer Archivare gegründet. Sieben Jahre später, im Jahre 1898, hatten seine Mitglieder hundert Regeln zur Beschreibung niederländischer Archive zusammengestellt. Die später berühmt gewordene "Handleiding" von Muller, Feith und Fruin wurde zum offiziellen Lehrbuch archivistischer Methoden für niederländische Archivare erhoben. Der Verein blieb nicht müßig und machte sich auch über die Ausbildung der Archivare Gedanken. Die ursprüngliche Absicht war, lediglich promovierte Juristen mit gediegenem historischen Wissen zum Archivexamen zuzulassen, das durch Vereinsmitglieder abgenommen wurde. Negativ ausgedrückt wollte man auf diese Art und Weise die schon im Archivwesen Tätigen ohne akademischen Abschluß, geschweige denn ohne Doktortitel, aus der Berufsgruppe ausschließen. Ein im Jahre 1919 verabschiedeter Ministerbeschluß verhinderte dies jedoch und legte fest, daß zwei Gruppen zum Archivexamen zugelassen wurden: Akademisch Geschulte, die Archivbeamte erster Klasse werden konnten, und die Nichtakademiker, die die Funktion des Archivbeamten zweiter Klasse ausübten. Im Verein war man über diese Entwicklung der Archivausbildung unterschiedlicher Auffassung. Sie wurde dann 5 Jahre später auch schon wieder abgeschafft. Hinter dem Streit um die Frage, ob es die Aufgabe einer Archivschule sein soll, Nichtakademiker zu Archivaren auszubilden, verbarg sich innerhalb des Vereins Niederländischer Archivare der Streit um den Stellenwert von Geschichtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft. Einige fanden, daß das Aufgabenfeld eines Archivars sich nicht nur auf Klosterarchive beschränken dürfe, sondern daß der gleiche Beamte auch das Inventar einer zeitgenössischen Elektrizitätsfabrik erstellen können muß.

Berufsständische Auseinandersetzungen dieser Art dauerten in den Niederlanden von den dreißiger bis in die fünfziger Jahre hinein. Ihre Auswirkung war für die Weiterentwicklung der niederländischen Archivwissenschaft nicht sehr stimulierend. Zwei Archivare, die in dieser Zeit trotz alledem zukunftsweisende Arbeit geleistet haben, will ich darum bei ihrem Namen nennen: Van der Gouw und Bloemen. Sie sahen den Beruf des Archivars als eine praktische, gesellschaftlich notwendige Aufgabe an und waren sich nicht zu schade, Archivkurse, in denen es nur um die Probleme moderner Registraturen ging, für Archivfacharbeiter in Industriebetrieben und Verwaltungsinstitutionen zu geben. Sie wollten die verheerende Spaltung zwischen rein verwaltungswissenschaftlicher und historisch - kultureller Bedeutung des Archivwesens, zu der es seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts gekommen war, wieder aufheben und sprachen sich für die Reprofessionalisierung des Berufs des Archivars aus. In dem Begriff Reprofessionalisierung kommt zum Ausdruck, daß es ihnen um die Wiedererlangung einer früher schon existierenden Berufsauffassung ging. Waren die Archivare des gehobenen Dienstes nicht die Eckpfeiler des Niederländischen Archivwesens? Eine dritte Gruppe von Archivpersonal neben den Archivaren des höheren und gehobenen Dienstes kommt hier zusätzlich ins Bild: die Archivassistenten und Archivfacharbeiter, die ihre Aufgaben vor allem in Zwischenarchiven und Registraturen haben. Wer leitet sie an, bildet sie aus? Anfang der fünfziger Jahre wurde dann auch von Vertretern der "Wiedervereinigung von Verwaltung und Kultur" innerhalb des Vereins Niederländischer Archivare vorgeschlagen, die Archivausbildung des Vereins zusammenzufassen mit der bestehenden, durch Gemeinden organisierten Registraturausbildung (SOD). Dieser Vorschlag wurde durch das "Archivestablishment" des Vereins von der Hand gewiesen.

In diesem Kontext muß auch das Entstehen der "jonge Chartermeesters" gesehen werden. Diese Abteilung des Vereins Niederländischer Archivare wurde auf Initiative von auszubildenden Archivaren des höheren Dienstes Ende der sechziger Jahr errichtet, um den "esprit du corps" unter den Archivaren in führenden Positionen zu stärken "Meister über die Akten", eine Eigenbenennung in der die Identität dieser "Archivbeamten erster Klasse" zum Ausdruck kommen, das war der Titel, mit dem man sich unterscheiden wollte vom "Archivbeamten zweiter Klasse", der des Lateins nicht kundig war - Wissen ist Macht.

Glücklicherweise ändern sich die Zeiten. Spätestens mit der Abschaffung des Fachs "lateinische Paläografie" als Teil des Archivexamens für den Archivar des höheren Dienstes und den Schwierigkeiten, sich auf dem Arbeitsmarkt einen Platz zu ergattern, ein Kampf, den beide Laufbahnen teilen, wurde der "Aktenmeisterklub" mit diesem Anspruch zu einem Fossil. Deshalb hat sich vor kurzem aus dem Vorstand der "jonge chartermeesters" in Zusammenarbeit mit jungen Archivaren des gehobenen Dienstes eine neue Abteilung des Vereins Niederländischer Archivare mit dem Namen "Plattform für neuausgebildete Archivare" gegründet, eine Interessengruppe, ie ungeachtet, ob sie nun das Diplom für die höhere oder gehobene Laufbahn hat, Wissen und Erfahrungen austauscht und Problemfälle in Ausbildung und Beruf zur Diskussion in den Verein und so in die Niederländische Archivwelt trägt.

Das Aufgabenfeld der "jongen Chartermeesters" - das Organisieren jährlicher Exkursionen zu wichtigen Stationen in der Archivwelt im In- und Ausland, ließ sich problemlos in diese neue Konzeption integrieren. Soviel zum Kontext der hier anwesenden Gruppe.
Die Erneuerungsbestrebungen innerhalb des Vereins führten zur Wiedererrichtung der Archivschule im Jahre 1955. Bis zum Ende der achtziger Jahre hatte sich dort nicht viel verändert. Es handelte sich in diesen letzten vierzig Jahren um eine interne staatliche Berufsausbildung, die direkt durch das Kultusministerium finanziert wurde, mit einer Diplomprüfung vor einer durch Gesetz vorgeschriebenen Examenskommission. Die Auszubildenden gingen für die Dauer eines Jahres ein Mal in der Woche in die Archivschule nach Den Haag, absolvierten dort Unterricht in den Fächern Paläografie, Amts-Niederländisch, Chronologie und Aktenkunde. Zum Kanon der Archivwissenschaft gehörte Unterricht in der Erstellung von Inventaren, das Ordnen und Beschreiben einzelner Archivstücke, Ausbildung in der Registraturkunde des neunzehnten Jahrhunderts. Für die auszubildenden Archivare des höheren Dienstes kamen noch die historischen Fächer Rechts-, Verwaltungs-, Staats- und Kirchengeschichte dazu. Das Handwerk des Beständeverzeichnens lernte man auf der Praktikumsstelle, die dem Auszubildenden zwölf bis achtzehn Monate Unterkommen bot. Die Erklärung d er Praktikumsstelle, daß die Auszubildende die Praktikumszeit erfolgreich abgeschlossen hatten, diente als Zulassung zum Archivexamen und bestand aus dem "Meisterstück", dem nach allen Regeln der Kunst erstellten wissenschafltichen Inventar (Findbuch). Die Aspiranten für den gehobenen Archivdienst erhalten ihr Staatsexamen nach einer mündlichen Prüfung, den "Höheren" stehen zwei Prüfungen bevor, Stoff von ungefähr 4000 Seiten über Staats-, Kirchen- und Rechtsgeschichte müssen während einer einstündigen mündlichen Prüfung parat gehalten werden. Mir steht diese zweite Prüfung noch bevor, erlauben sie mir deshalb einen andächtigen Seufzer.

Die Ausbildung zum Archivar in den Niederlanden fiel bisher aus dem Rahmen der staatlichen Ausbildungsförderung, die angehenden Archivare mußten die Lehrmittel und die Ausbildungszeit selbst bezahlen. Ob die Praktikumsstelle bezahlt wurde, war nicht garantiert und davon abhängig, ob es sich um einen Praktikumsplatz in einem staatlichen Archiv (Rijksarchief) oder in einem Gemeindearchiv handelte. Mit etwas Glück konnte man Arbeitslosenunterstützung mpfangen und die Ausbildung zählte als Umschulung.

Die Zulassung zur Ausbildung war noch dazu bis jetzt einem strengen Auswahlverfahren unterworfen. Jährlich wurden nur 10 Archivare des Höheren Dienstes zum Examen zugelassen. Garantie auf einen festen Arbeitsplatz im Staatsdienst bot allerdings auch die strikte Beschränkung in den letzten Jahren nicht allen. Die Sparmaßnahmen innerhalb der ministeriellen Haushalte und der Abbau des "Beamtenberges" als allgemeine Entwicklungstendenz machte sich auch bei den zur Verfügung stehenden Stellen für Archivbeamte bemerkbar. Zu diesem Thema veröffentlichte die oben genannte Plattform neuausgebildeter Archivare eine interessante Berufsenquete, in der die an der Archivschule ausgebildeten Archivare zu ihrer Berufssituation befragt wurden.

Archivare des gehobenen Dienstes wurden dreißig bis vierzig pro Jahr ausgebildet. Die Motivation der Bewerber ist allerdings in den letzten Jahren gesunken, viele ziehen sich nach einer Auswahl zurück. Man mußte sich ernsthaft fragen, warum diese Ausbildung an Attraktivität verloren hatte.

Der Verein für Organisation von Information und Verwaltung, mit dem die Niederländischen Archivare in den fünfziger Jahren nicht zusammengehen wollten, existiert noch immer mit eigener Ausbildung und eigenem Kursangebot, die attraktiv sind.

Und so läßt sich feststellen, daß ein Archivar, der ein Examen des gehobenen Dienstes an der Archivschule mit einem Abschluß des Vereins für Organisation von Information und Verwaltung kombiniert hat, zur Zeit die besten Chancen hat, eine Anstellung im Bereich der modernen Archive zu finden. Angesichts dieser Entwicklung mußte gefragt werden: Beantwortet die Archivschule noch die Anforderungen des gegenwärtigen Arbeitsmarktes?

Die Ausbildung wurde durch die Berufsgruppe, die Königliche Vereinigung Niederländischer Archivare und die Abteilung junger Archivare in den letzten Jahren heftiger Kritik unterworfen.
Ich nenne hier einige Punkte:
- Die Ausbildung produziert stark spezialisierte Archivare, die nicht flexibel und mobil genug sind, um sich an die an das Archivwesen angrenzenden Bereiche der Informationstechnologie anzugliedern.
- Die Auswahl, die vor der Ausbildung stattfindet, garantiert keinen festen Arbeitsplatz mehr. Wozu dann die Beschränkung der Ausbildungsplätze?
- Der Entwicklung einer wissenschaftlichen Reflexion auf aktuelle archivistische Probleme kann im heutigen Rahmen der Ausbildung nicht genügend Raum geboten werden. Zählt man die Schultage zusammen, kommt man auf eine theoretische Unterrichtszeit von insgesamt 4 Monaten.

Nun sind wir am zweiten Punkt angelangt. Der erste Schritt einer Reform als Reaktion auf die Kritik umfaßte die inhaltliche Umstrukturierung des Lehrplans.
Der Umfang der Fächer wurde reduziert und nach archivistischem Ausgangspunkt neu geordnet. Das führte zu dem Fach Dokumentanalyse, das Paläografie, Chronologie, Akten- und Urkundenlehre als Hilfswissenschaften bei der Analyse von Archivstücken untersucht. Das Fach Archivistik umfaßt nun Ordnen und Verzeichnen von Archivalien, moderne Archivbildungs- und Registraturmethoden seit dem neunzehnten Jahrhundert. Ein drittes Fach, Archivmanagement, umfaßt Fragen der Archivgesetzgebung, der materiellen Versorgung und Zugänglichkeit der Archive. Das didaktische Prinzip beim Unterricht in diesen Fächern hat sich verändert: ging man früher vom einzelnen, oft alten Stück aus, nähert man sich der Materie jetzt über den "Lebenslauf des Archivgutes", dem gesamten Archiv in seinem Entstehungszusammenhang über Einzelstück, Akte und moderner Registratur.

Dies ist der Hintergrund, vor dem mein Ausbildungsjahrgang 1993/94 seine Ausbildung absolviert. Gleich zu Beginn ließ man mich und meine Mitstudenten auch unsere ersten praktischen Erfahrungen machen. Mit dem methodischen Instrument, as in den letzten Jahren entwickelt wurde, um vor allem ministerielle Archive gründlich zu säubern und zu reduzieren (PIVOT) in der Hand, wurden wir zu kleinen Archiveinheiten auf kommunaler und Landesebene und zu Organistionen geschickt, mit dem Auftrag, nach Analyse eine Empfehlung zu besserer Aktenverwaltung und -reduzierung nach dem Muster von PIVOT zu schreiben. Nach dieser Einführung wurde uns mitgeteilt, daß wir eine verkehrte Ausbildungswahl getroffen hatten, wenn wir diese Art von Tätigkeit nicht ausüben wollten. Das saß. Neben den verschulten Leselernübungen in Paläografie und dem Unterricht in Rezepten zum Mischen verschiedener Tintensorten des 16. Jahrhunderts wurden wir konfrontiert mit den Grundlagen und der Struktur komplizierter Datenverarbeitung und führten Gespräche mit Staatsfunktionären, die Einfluß auf die Informationsströme innerhalb ihrer Organisation haben. Ich lernte während dieser Zeit, daß sich neben den Registratur- und Archivabteilungen neue "Datenverwalter" auf der Ebene der Automatisierungsabteilungen entwickeln, ohne daß die Mitarbeiter der Archivverwaltung von ihnen wissen. Was passiert mit all der verschiedenartigen Information? Muß man nicht erst wissen, was es für Information gibt, bevor man beschließen kann, ob sie bewahrt oder kassiert werden kann? Können Archivare in diesem Chaos eine intermediäre Rolle zwischen Organisation und Information erfüllen?

Ein anderes Ereignis in unserer Versuchskaninchen-Existenz war die Vorbereitung eines Mini-Kongresses, auf dem wir Ausbildung betreffen.
Die Ausbildung zum Archivar bleibt fachinhaltlich in Händen der mittlerweile verselbständigten Archivschule, wird aber freigegeben für Universität und Hochschule. Die Ausbildungsförderungsgesetze gelten dann auch für die Archivausbildung und ermöglichen allen Interessierten, sie zu absolvieren. Die Loslösung der Ausbildung aus dem betriebsinternen Klima soll zu einer Qualitätssteigerung durch die Verlagerung des Schwerpunktes von der Praxisbezogenheit hin zur Entwicklung neuer Archivtheorien auf dem Gebiet der Erschließung von EDV-Archiven und Kassationsverfahren führen. Der neue Lehrplan für die Universitätsausbildung soll vor allem eine kritische Reflexion der Ausgangspunkte der Disziplin im Lichte der Neuentwicklungen in der Computertechnik und im Hinblick auf zukünftige Berufsfelder leisten.

Um die Entwicklung einer von Bibliothekswissenschaft und historischer Wissenschaft unabhängigen Archivwissenschaft zu garantieren, hat die "Stiftung Archivschule" beschlossen, die Ausbildung bei der Fakultät Informationswissenschaft unterzubringen. Damit ist auch der Entschluß gefaßt, den Archivar nicht mehr gleichzeitig als Historiker auszubilden und anzusehen. Der Historiker wird fortan höchstens als einer der Kunden des Archivwesens berücksichtigt und seine Wissenschaft wird in der Archivistik lediglich unterstützend zur Hilfe gerufen.

Die Lerninhalte an der Archivschule, früher vermittelt durch geduldige Mentoren am Praktikumsplatz, müssen nun in die theoretische Ausbildung integriert werden, die dann auch von einem auf drei Jahre erweitert wird. Praktikumsperioden sollen den Kontakt mit unterschiedlichen späteren Berufsfeldern ermöglichen und die Magisterarbeit auf ein archivtheoretisch aktuelles Thema zuspitzen helfen.

Die Fachhochschulvariante dauert ebenfalls drei Jahre und wird Teil der neuen Ausbildungsrichtung mit dem Namen "Information, Dienstleistung und Management" der Amsterdamer Fachhochschule. Auch hier sollen verschiedene Praktikumsperioden eine wichtige Rolle spielen. Ein Absolvent dieser Variante kann theoretisch im dritten Studienjahr der universitäten Ausbildung einsteigen. Mit dieser Möglichkeit ist der Unterschied zwischen dem Zweiklassenarchivar, den van der Gouw und Bloemen 1950 so kritisierten, abgeschafft. Die Vorbildung braucht kein Hindernis mehr bei der Entfaltung archivistischer Qualitäten zu sein.
Die Erfahrung enger Zusammenarbeit mit Mentor und Archivpersonal auf dem Praktikumsplatz fällt in Zukunft weg;

Susanne Neugebauer
Studentin im Ausbildungsgang zum "hoge Archiefsamtenaar" an der Archivschule Den Haag, Niederlande

 


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Chinesische Archivdelegation besucht die Archivschule Marburg

 

Am Freitag, den 17. November 1995, besuchte eine siebenköpfige chinesische Archivdelegation die Archivschule Marburg.
Teilnehmer waren:

  • Herr Bao Jin Chun, Stellvertretender Direktor des Stadtarchivs Peking,
  • Herr Wang Dejun, Herausgeber der Wochenzeitschrift "Chinesische Archive",
  • Herr Li Rongzhong, Direktor der Abteilung Ausbildung der Zentralen Staatlichen Archivverwaltung Chinas,
  • Frau Su Yuwen, Ressortleiterin Archivausbildung in der Staatlichen Archivverwaltung,
  • Herr Professor Cao Xi Chen, Dekan des Archivischen Instituts an der Volksuniversität Peking,
  • Herr Professor Liu Cheng-Zhi, Dekan des Fachbereichs Archive der Universität Sichuan,
  • Frau Du Mei, Archivarin und Übersetzerin der englischen Sprache in der Staatlichen Archivverwaltung.

Schon vor Monaten hatte der Direktor der Abteilung Auslandsbeziehungen der Zentralen Staatlichen Archivverwaltung in Peking in einem Schreiben an die Archivschule zum Ausdruck gebracht, daß die Ausbildung an der Archivschule Marburg in China einen besonders guten Ruf genieße. Die Delegation kam daher mit Neugier und Wissensdurst nach Marburg.

Nach einer Einführung in die Geschichte und die Aufgaben der Archivschule durch Herrn Prof. Dr. Rainer Polley stellte Herr Dr. Karsten Uhde das Fortbildungsprogramm der Archivschule vor. Es folgten ein Referat von Herrn Dr. Werner Moritz über die Ausbildung zum Archivar des gehobenen Archivdienstes und von Herrn Dr. Nils Brübach über die Ausbildung zum Archivar des höheren Archivdienstes. Die Beiträge, die in englischer Sprache gehalten wurden, wurden von Frau Du Mei in die chinesische Sprache übersetzt. Die Teilnehmer stellten zu jedem Referat interessierte Fragen und schilderten auch die Struktur der Archivarsausbildung in China.

Eine Führung durch die Gebäude der Archivschule schloß sich an. Bei einem kurzen Besuch im Hessischen Staatsarchiv Marburg zeigte dessen Direktor, Herr Dr. Fritz Wolff, den Teilnehmern eine Ratifizierungsurkunde des Kaiserreichs China zu einem Zoll- und Freundschaftsabkommen mit dem Königreich Preußen von 1862, dem auch der Kurfürst von Hessen beigetreten war. Nach einem gemeinsamen Mittagsessen schloß sich eine zweistündige Stadtführung mit Herrn Prof. Dr. Polley an, die die Delegation zu zahlreichen Fotoaufnahmen nutzte.

In dem archivschulnahen Café Klingelhöfer schilderte die Delegation der Leiterin der Archivschule, Frau Dr. Menne-Haritz, die Vorbereitungen für den Internationalen Archivtag in Peking im September 1996 und brachte in besonders herzlich und freundschaftlich formulierten Eintragungen im Gästebuch der Archivschule Marburg ihr Interesse an einer Fortsetzung des Meinungsaustausches zum Ausdruck.

Die Delegation hat in den folgenden Tagen die Staatliche Archivverwaltung Bayerns in München und das dortige Archiv der Firma Siemens, dann die Fachhochschule Potsdam - Fachbereich Archiv-Bibliothek-Dokumentation - und die Abteilungen des Bundesarchivs in Potsdam besuchen.

Rainer Polley


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Die Archivschule im Internet

Nach der im Sommer diesen Jahres an vier Rechnern erfolgten Installation von Modems lernten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Archivschule schnell, daß es sich beim Internet nicht nur um eine Spielerei von Technik-Freaks handelt, sondern daß es einen weltweiten Zugang zu vorhandenen Informationen aller Art bietet. Die Skepsis, ob sich in der Datenwelt überhaupt Informationen zu unserem Fachbereich finden würden, war groß, schließlich gelten Archive noch immer als Hort verstaubter Karteikästen und nicht als Zentren moderner Technik.

Doch zeigte sich schon sehr bald: Archivare sind fortschrittlicher und technikfreundlicher als ihr Ruf. Wenn auch das Angebot in Deutschland noch ziemlich gering ist, in Nordamerika gibt es auf dem archivischen Sektor schon viele abrufbare Informationen.
Nach diesem Befund wurde die Idee aufgeworfen, daß die Archivschule nicht nur die in aller Welt angebotenen

Informationen nutzen, sondern selbst Informationen über sich selbst bereitstellen sollte.
Im September kam es dann zu einem Treffen zwischen Frau Dr. Menne-Haritz und mir als Vertretern der Archivschule, In der folgenden Woche erstellten wir die ersten Seiten. Dabei wurden neben der Home-page - auf der die Archivschule sich vorstellt - zunächst die wichtigsten Arbeitsbereiche angesprochen:

  • Informationen zur Ausbildung im gehobenen und höheren Archivdienst
  • Informationen zur Veröffentlichungsreihe der Archivschule
  • Informationen zum Fortbildungsangebot 1996

Das Internet ermöglicht dabei sogar die Anmeldung zu Fortbildungsveranstaltungen auf elektronischem Wege über E-mail. Ergänzt wurde dies durch Seiten über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, eine Liste mit Terminen von Tagungen im Archivwesen und einer Seite über Neuigkeiten an der Archivschule.
Die Archivschule will sich aber nicht nur selbst darstellen, sie möchte auch als Informationsvermittler dienen. Deshalb wurden Verbindungen zu anderen, im Internet vertretenen Archiven, Archivschulen und universitären Forschungseinrichtungen mit archivischen Themen hergestellt, so daß die von uns entdeckten archivisch interessanten Informationen in aller Welt dem Nutzer unseres Internet-Angebotes zur Verfügung stehen.
Zum Hamburger Archivtag 1995 war das Angebot in seiner ersten Version fertiggestellt.

Im Laufe des Oktobers und Novembers wurden die Seiten dann in einem zweiten Schritt von Herrn Engel und mir mit Hilfe graphischer Darstellungen auch optisch ansprechend gestaltet. Auch konnten kleinere Fehler, die sich in die erste Fassung noch eingeschlichen hatten, korrigiert und die Anzahl von Verbindungen u anderen Anbietern deutlich erweitert werden.
Wer sich selbst ein Bild vom Internet-Angebot der Archivschule machen will, der findet uns unter:
http://www.uni-marburg.de/archivschule

Karsten Uhde

 


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Ad-hoc-Commission Terminologie

Vom 4. - 6. Oktober 1995 tagte in Marburg die Ad-hoc-Commission Terminologie des Internationalen Archivrates auf Einladung der Archivschule. Unter dem Vorsitz von Björn Lindh, Reichsarchiv Stockholm, erarbeitet die Gruppe eine Neuauflage des internationalen Wörterbuchs der archivarischen Fachsprache. In der Gruppe arbeiten Kolleginnen und Kollegen aus Washington, Madrid, Edinburgh, Paris, Moskau und Marburg zusammen. Das neue Wörterbuch soll zum Internationalen Archivkongress in Peking im September 1996 vergelegt werden. Es wird 10 Sprachen umfassen, darunter auch japanisch, arabisch und chinesisch.

Das Treffen war wieder ein Zeichen dafür, daß die internationale Zusammenarbeit im archivarischen Beruf besonders intensiv ist. Trotz nationaler Unterschiede in den Traditionen der Schriftgutverwaltung und der historischen Überlieferung gibt es weitreichende Gemeinsamkeiten in den Methoden. Sie werden besonders betont durch den grenzenüberschreitenden Vereinheitlichungsdruck der Informationstechnologien. Der Bedarf an Informationen über die anderen Länder ist groß und deshalb versucht das neue Wörterbuch nicht, die jeweilige Fachsprache direkt zu übersetzen, was häufig zu willkürlichen Begriffsbildungen führt, die in der Realität so nicht benutzt werden. Vielmehr wird mit einem neuen Konzept jeder Fachbegriff zunächst in seiner eigenen Sprache erläutert und zusätzlich wird auf korrespondierende Begriffe der anderen Sprachen verwiesen.

Die Teilnehmer der Arbeitsgruppe hielten trotz der intensiven Gruppenarbeiten Vorträge vor dem 29. Wissenschaftlichen Kurs über das Archivwesen ihrer Länder und spezielle Probleme, die für sie wichtig sind.

Die Arbeit wird bei einem weiteren Treffen im Januar in Madrid fortgesetzt.

Angelika Menne-Haritz

 


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Der 30. Wissenschaftliche Kurs ist eröffnet

Am 1. November 1995 wurde der 30. Lehrgang des höheren Archivdienstes eröffnet. Es ist ein ganz besonderer Kurs, der nun bis zum 30. April 1997 an der Archivschule sein wird: Denn gemeinsam mit dem 29. wiss. Kurs sind zum ersten Mal nunmehr alle der fünf neuen Bundesländer vertreten. Der Anteil von Referendarinnen und Referendaren aus dem östlicheren Teil der Bundesrepublik liegt mit ca. 25 Prozent höher als jemals zuvor. Hier ist etwas zusammengewachsen, was zusammengehörte. Die Berichte über den teilweise ganz anders gearteten Archivalltag in Dresden oder Magdeburg, in Schwerin, Weimar oder Potsdam bringen ein Stück Praxis und Realität in den Kurs, das für alle wichtig ist und für das sich alle interessieren.

Der 30. wissenschaftliche Kurs hat mit 28 Teilnehmerinnen und Teilnehmer die zahlenmäßige Grenze des noch in einem Einzelkurs Möglichen erreicht. Sein Domizil ist der Hörsaal 5 im Gebäude Liebigstr. 39.

Dieser Referendarskurs wird durch mich als Mentor betreut, der erster Ansprechpartner der Kursteilnehmer und -teilnehmerinnen gegenüber der Archivschule sein soll und der darüberhinaus vor allem organisatorische Aufgaben hat.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 30. Lehrganges für den höheren Archivdienst

  • Dr. Thomas Bardelle, Niedersachsen
  • Irmgard Becker M.A., Baden-Württemberg
  • Dr. Mechthild Black-Veldtrup, Nordrh.-Westfalen
  • Angela Erbacher M.A., Sachsen-Anhalt
  • Dr. Peter Exner, Baden-Württemberg
  • Dr. Martin Fimpel, Nordrh.-Westfalen
  • Dr. Martin Furtwängler, Baden-Württemberg
  • Dr. Uwe Grandke, Sachsen
  • Dr. Friedrich-Wilhelm Hemann, Nordrh.-Westfalen
  • Dr. Hans-Christian Herrmann, Nordrh.-Westfalen
  • Dr. Uwe Kiel, Sachsen-Anhalt
  • Dr. Gudrun Kling, Baden-Württemberg
  • Thekla Kluttig M.A., Sachsen
  • Dr. Jürgen König, Rheinland-Pfalz
  • Dr. Achim Krümmel, Rheinland-Pfalz
  • Dr. Thomas Küster, Nordrh.-Westfalen
  • Jens-Uwe Lahrtz M.A., Sachsen
  • Fred Mrotzek M.A., Meckl.-Vorpommern
  • Dr. Karl Murk, Hessen
  • Dr. Christoph Popp, Baden-Württemberg
  • Dr. Kerstin Rahn, Meckl.-Vorpommern
  • Dr. Maria Barbara Rößner, Hessen
  • Dr. Katharina Schaal, Hessen
  • Dr. Silke Wagener, Niedersachsen
  • Dr. Andreas Weber, Baden-Württemberg
  • Dr. Norbert Wex, Nordrh.-Westfalen
  • Dr. Peter Wurm, Schleswig-Holstein
  • Dr. Johann Zilien, Hessen

Nils Brübach

 


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Verzeichnung des 29. Wissenschaftlichen Kurses

Die 18 Referendarinnen und Referendare des 29. wiss. Kurses der Archivschule Marburg ordneten und verzeichneten vom 12. Juni bis zum 7. Juli 1995 Teile des Archivs des Gesamtverbandes Evangelischer Kirchengemeinden in Kassel. Die Verzeichnungsübung wurde von Frau Dr. Bettina Wischhöfer, der Leiterin des Landeskirchlichen Archivs Kassel, betreut, die bereits die Verzeichnungsübung des 27./28. wiss. Kurses geleitet hatte. Der zu verzeichnende Bestand, der sich in der Bauabteilung des Gesamtverbandes befand, setzte sich aus 22 Regalmetern Akten und rund 2.500 Bauplänen zusammen. Diese mußten zunächst von Kassel nach Marburg transportiert werden, wobei die Referendarinnen und Referendare tatkräftig mit Hand anlegten (Einpacken in bzw. Auspacken aus Transportkisten).

Obwohl in Einzelfällen starke Verschmutzung und Verstaubung sowie Schimmelbefall auftraten, befanden sich die Archivalien überwiegend in einem guten Zustand. Sie wurden zunächst gesäubert, entmetallisiert und - wo erforderlich - umgebunden, um schließlich in säurefreie Archivkartons verpackt zu werden.

Angesichts der Verluste an Archivalien in Kassel im 2. Weltkrieg wurde nur ein geringer Teil der bis ins 18. Jahrhundert zurückreichenden und sich vor allem mit der Errichtung bzw. Wiedererrichtung kirchlicher Gebäude befassenden Akten ausgesondert. Dies machten auch die anzuwendenden Bestimmungen der Kassationsordnung der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck erforderderlich, weil hier eine dauerhafte Aufbewahrung aller sich auf Neubau und teilweisen Wiederaufbau kirchlicher Gebäude beziehenden Akten vorgeschrieben wird. Im Unterschied dazu konnten bei den Bauplänen ca. 1.000 Dubletten ausgesondert werden.

Organisatorisch ging die Arbeit so vonstatten, daß der Kurs in 4 Gruppen eingeteilt wurde, von denen 3 Gruppen Akten und 1 Gruppe Baupläne verzeichneten. Anschließend bzw. parallel dazu fanden sich die Referendarinnen und Referendare in weiteren Arbeitsgruppen zusammen, die sich den Themenkreisen Vorwort, Klassifikation und Öffentlichkeitsarbeit widmeten. Die Beschriftung (mit Signaturen) und das Umpacken der Archivalien erfolgte dann wieder gemeinsam.

Das Ergebnis der Ordnungs- und Verzeichnungsarbeiten schlug sich in einer Kartei nieder, die später in Kassel als Grundlage für das Findbuch gedient hat. Dennoch ist nach dem Rücktransport der Archivalien nach Kassel bereits anhand der Kartei eine Benutzung des Bestandes möglich. Da während der Verzeichnung deutlich wurde, daß die Dokumente viele - nicht nur für die Kirchengeschichte von Kassel - interessante und wichtige Fakten bergen (so über die langanhaltenden Auseinandersetzungen zwischen der Stadt Kassel und den Kasseler Kirchengemeinden um bestehende Baulastverpflichtungen, über die Nutzung provisorischer Kirchen nach 1945 oder über den umfangreichen Neubau von Kirchen in den 50er Jahren), bleibt zu hoffen und zu wünschen, daß sich die Kasseler Geschichtsforschung bald mit diesen Beständen vertraut macht.

Jörg Ludwig, 29. WK.

 


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Pilsen - Prag - Eger. Studienfahrt des 29. Wissenschaftlichen Kurses in die Tschechische Republik

Vom 10. bis 14. Juli 1995 besuchte der 29. wissenschaftliche Lehrgang der Archivschule Marburg unter Begleitung von Herrn Prof. Dr. Polley und Herrn Dr. Uhde in der Tschechischen Republik neun Archive und ähnliche Institutionen. Die Fülle der Eindrücke kann hier nur bruchstückhaft wiedergegeben werden.
Erster Anlaufpunkt war das Firmenarchiv der Skoda-Werke in Pilsen mit seinem angeschlossenen Museum. Nach einer Führung durch das Museum unter der Leitung von Herrn PhDr. Krátky', erläuterte die Archivarin, Frau Mgr. Nohovcová, die Geschichte des Firmenarchivs und präsentierte ausgewählte Archivalien. Die anschließende Aussprache klärte unter anderem, daß die im Westen mit Skoda identifizierten Automobilwerke nach dem II. Weltkrieg vom Mutterkonzern getrennt wurden und lediglich die Genehmigung erworben haben, Namen und Signet des Konzerns weiterzuführen. Das Firmenarchiv verfügt zur Zeit über sechs Mitarbeiter - je drei in Pilsen und Prag - und ist interessanterweise der Abteilung Sicherheitsdienste im Konzern zugeordnet. Zur Zeit liegen in Pilsen 1.400 lfd. m Schriftgut, weitere 3.100 lfd. m im Zwischenarchiv in Prag. Mehrmalige ungläubige Nachfrage löste die Information aus, daß das tschechische Archivgesetz (Gesetz vom 1. September 1992 zur Änderung des Archivgesetzes vom 17. Oktober 1974, Abdruck: Archivum 40 (1995) S. 157-168) auch für dieses private Firmenarchiv verbindlich gilt.
Am 11. Juli stand vormittags der Besuch der Abteilung I des Zentralen Staatsarchivs (ZStA) in Prag auf dem Plan. Zunächst stellte Herr Direktor PhDr. Babicka die Bestimmungen des Archivgesetzes vor und erläuterte den Aufbau des tschechischen Archivwesens. Das ZStA untersteht der Sektion Archivverwaltung des Innenministeriums und untergliedert sich in neun Abteilungen, die zur Zeit in insgesamt 15 Gebäuden untergebracht sind. Das ZStA verfügt über 93 lfd. km Archivgut aus der Zeit vom 10. Jahrhundert bis 1992. Seine mehr als 1.000 Bestände werden von 170 Mitarbeitern betreut. Die staatlichen Archivalien besitzen zum Schutz vor Abwanderung ins Ausland den Status von Kulturdenkmälern. In der folgenden Diskussion kam zur Sprache, daß sich die Akten der ehemaligen Geheimpolizei noch im Verwaltungsarchiv des Innenministeriums befinden und ein Gesetz über ihre Nutzung in Vorbereitung ist. Die Archivalien der tschechoslowakischen Förderation wurden bei der Auflösung nach dem jeweiligen Sitz ihrer Institution aufgeteilt. Kirchliche Archive wurden - nach der Beschlagnahme in den 50er Jahren - in den letzten Jahren zurückgegeben, wenn geeignete Archivräume zur Verfügung standen; bisweilen schlossen kirchliche Einrichtungen auch Depositalverträge mit dem Staatsarchiv ab. Anschließend führten die tschechischen Kolleginnen und Kollegen Frau PhDr. Matusiková, Frau Ing. Dernovsková und Herr PhDr. Cumlivski den Kurs durch die Magazinräume des ZStA/Abt. I. Dabei beeindruckten vor allem die optimalen Lagerungsbedingungen (holländisches Modell) der Urkundenbestände im Tresorraum und, durch ihre variationsreiche künstlerische Gestaltung der Einbände, die seit dem 16. Jahrhundert erhaltenen Böhmischen Landtafeln. Für den Nachmittag war der Besuch des Prämonstratenserklosters Strahov in Prag vorgesehen, in dessen Gebäuden das Literaturarchiv und die historische Bibliothek untergebracht sind.
Im Literaturarchiv hielt Herr Sicha einen Vortrag über die Geschichte des Archivs und führte anschließend durch die Magazinräume. Das Literaturarchiv ist als sog. "Archiv besonderer Bedeutung" 1964 vom Zentralmuseum der tschechischen Literatur getrennt worden und gehört seitdem organisatorisch zum Innenministerium, in finanzieller Hinsicht jedoch zum Kulturministerium. Aufgrund der Rückgabenansprüche des Prämonstratenserordens ist das Archiv in naher Zukunft gezwungen, die alte Klosteranlage zu verlassen; die Umzugsvorbereitungen waren bereits während unseres Besuchs unübersehbar. Die Sammlungstätigkeit ignorierte von Anfang an ideologisch-politische Kriterien und umfaßt somit auch deutschsprachige Schriften - am bekanntesten die Namen Kafka, Kisch, Werfel -, tschechische Exilliteratur sowie die im Untergrund und Selbstverlag erschienene Dissidentenliteratur. Schon zu Lebzeiten von Autoren bemüht sich das Archiv gezielt um Vorrechte auf deren Nachlaß. Es existiert eine vollständige Dichter-Kartei und seit 1993 ein Gesamtverzeichnis der Nachlässe. Die Bibliothek umfaßt ca. 900.000 Bände.
Die historische Stiftsbibliothek gehört zu den bedeutendsten ihrer Art in Europa. Hier erläuterte Herr Parez ausführlich die achthundertjährige Geschichte der Bibliothek und führte dabei durch die außerordentlich beeindruckenden Prunksäle (Theologischer Saal von 1671 und Philosophischer Saal von 1794), die der touristischen Öffentlichkeit normalerweise verschlossen bleiben. Die Regale fassen rund 180.000 Bände, darunter etwa 5.000 Codices, die bislang lediglich durch einen handschriftlichen Katalog erschlossen sind. Am 12. Juli stand zunächst die Abteilung II des ZStA in Prag mit den technischen Werkstätten auf dem Besichtigungsprogramm. Frau PhDr. Drasurová stellte das Archivgebäude, ein umgebautes Dominikanerkloster aus dem 17. Jahrhundert, und die Bestände der Abteilung II vor. Anschließend führte uns der Leiter der Restaurierungswerkstatt, Herr Ing. Durovic, durch die Werkstatträume und informierte detailliert über die Restaurierungsmethoden, die sich von den westlichen Standards nicht unterscheiden. Noch am selben Vormittag erhielt der Lehrgang die Gelegenheit, den Neubau des Zentralen Staatsarchivs und des Prager Regionalarchivs in Prag-Chodovec unter der Führung von Herrn Direktor PhDr. Babicka zu besuchen. Der Archivneubau beeindruckt in jeder Hinsicht, sowohl durch seine experimentierfreudige, futuristische Außengestalt und anregende Farbgebung, als auch durch seine Innenarchitektur und technischen Einrichtungen. Der Bau war 1992 begonnen worden. Bisher sind zwei große Magazingebäude fertiggestellt, folgen sollen ein drittes sowie ein weiterer Bau, worin die Administration, Benutzerräume, ein Ausstellungs- und ein Kongreßsaal Platz finden werden. Die Fertigstellung ist für 1998 geplant. Die Baukosten liegen bei rund 700 Mio. Kc (ca. 40 Mio. DM) und damit bemerkenswert niedrig, selbst angesichts tschechischer Löhne. Die Magazinkapazität wird dann 250 lfd. km in 130 sogenannten "Depot-Sälen" betragen, wovon 78 mit einer Kompaktanlage ausgestattet sind. Die Magazinräume werden nicht natürlich klimatisiert, jede Etage benötigt ihre gesonderte Klimaanlage. Alle angelieferten Archivalien werden, hochmodern, zunächst durch eine Entstaubungsanlage geschleust, worauf man sie in einer zimmergroßen Sterilisierungsanlage einer spanischen Firma 24 Stunden lang mit dem Gas Etoxen behandelt. Die Tageskapazität soll rund 150 Archivkartons erreichen. Großzügige Ordnungsräume rundeten den vorzüglichen Eindruck ab. Nachmittags suchten wir den Lehrstuhl für Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag auf. Stellvertretend für den dienstlich verhinderten Prof. PhDr. Hlavácek empfingen die Dozenten Herr PhDr. Sisler und Frau PhDr. Bláhová die Lehrgangsteilnehmer. Herr Sisler trug die Geschichte des seit 1964 bestehenden Lehrstuhls vor, mit seinen beiden Wurzeln Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft, und erläuterte den Studiengang. Zur Zeit verfügt das Seminar über acht wissenschaftliche Kräfte, einen Professor, vier Dozentinnen und Dozenten und Assistentinnen und Assistenten. Ein Studienjahrgang in Prag umfaßt üblicherweise 6-12 Studentinnen und Studenten, die Ausbildung dauert sechs Jahre. Das Studium ist in zwei Zyklen unterteilt, mit einem zwei- bzw. einem dreiwöchigen Praktikum. Während die Archivwissenschaft stark deutschen Einflüssen folgt, unterscheidet sich die praktische Organisation des Studiums. Der Magisterabschluß wird mit einer Diplomarbeit und den Prüfungen absolviert. Danach kann sich ein dreijähriges Promotionsstudium anschließen. Der Frauenanteil im tschechischen Archivwesen liegt bedeutend höher als hierzulande. Den Abschluß des Prag-Aufenthaltes bildete am 13. Juli ein Besuch im Stadtarchiv Prag. In den Räumen des Clam-Gallas-Palais aus dem 18. Jahrhundert begrüßten den Lehrgang gleich sechs Kolleginnen und Kollegen, nämlich der stellvertetende Archivleiter, Herr Mgr. Vichra, und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Frau PhDr. Fejtová, Frau PhDr. Pavlicová, Frau Lastóvková, Herr PhDr. Fiala und Herr Trikac. Zunächst stelle Herr Vichra die Geschichte, Organisation und Bestände des Stadtarchivs vor. Es verfügt zur Zeit über 17 lfd. km Archivalien, die aus Raumnot in zahlreichen Außenstellen ausgelagert sind. Aus diesem Grunde entsteht - direkt neben dem besagten Neubau des ZStA in Prag-Chodovec - ein Archivneubau, der Platz für 70 lfd. km Archivalien bietet und ab 1996 bezogen werden soll. Dem bevorstehenden Auszug aus dem schönen Palais sehen die in neun verschiedenen Abteilungen tätigen 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jedoch mit gemischten Gefühlen entgegen. Im Lesesaal präsentierten die Kollegen eine aufwendig zusammengestellte Auswahl von Archivalien, die besonders die Verflechtung der Prager mit der deutschen Geschichte herausstellte, erläuterten die Archivalien ausführlich und beantworteten Fragen. Daraus entwickelten sich zahlreiche sehr aufschlußreiche Gespräche durch das gesamte archivarische Spektrum. Die Rückfahrt am 14. Juli unterbrachen wir für das Bezirksarchiv in Eger. Im Beisein der stellvertretenden Leiterin des Archivs, Frau Václavú, verschaffte uns der frühere Direktor, Herr Nekuda, einen Einblick in die Geschichte und Bestände des Archivs und führte uns durch einige Räume. Das Bezirksarchiv belegt mehrere Gebäude der beieinanderliegenden ehemaligen Klöster der Franziskaner und Klarissinnen aus dem 13. bzw. 14. Jahrhundert. Es hütet 4.500 lfd. m Akten und ca. 3.100 Urkunden sowie 21.000 Amtsbücher. Zum Archiv gehören auch die Magistrats- und die Studienbibliothek, wobei die letztgenannte aus 20.000 deutschen und 5.000 tschechischen Bänden besteht. Im Archiv arbeiten insgesamt 12 Mitarbeiter, darunter vier Hochschulabsolventen. Zum Finale führte Herr Nekuda uns in den malerischen Archivgarten, umschlossen von Konvents- und Kirchenmauern. Der erste Blick traf eine Statue Josefs II.; das Kaiserabbild habe, wie Herr Nekuda erläuterte, bis 1948 auf den Bahnhofsplatz herabgeblickt und sei dann als nicht mehr zeitgemäß von dort verbannt worden. Mangels geeigneter Lagerkapazitäten war der Gedanke an das Archiv als Endlagerstätte aufgenommen. Wir Betrachter wandten den Blick von Josef ab nach rechts und erblickten, überlebensgroß in Bronze vor der Außenmauer eines Seitenschiffs, den ehemaligen Genossen Lenin. Solches Aufeinandertreffen ließ manchen über die Definition von Archivgut nachsinnen: Könnte man die beiden als ausgemusterte Informationsträger staatlicher Provenienz, mithin als Archivalien ansehen? Als Resumee bleibt festzuhalten: Einen unvergeßlichen Eindruck hinterließ die Freundlichkeit und das Entgegenkommen der tschechischen Kolleginnen und Kollegen, wobei besonders die große Hilfsbereitschaft von Herrn Direktor PhDr. Babicka - schon bei der Vorbereitung der Studienfahrt - zu erwähnen ist. Die tschechischen Archivare schienen auch ein wenig stolz darauf zu sein, bei den Kollegen im großen Nachbarland Beachtung zu finden. Solche Beachtung gebührt ihnen auch zweifellos: Das Archivwesen in der Tschechischen Republik genießt, gemessen an Wirtschaftskraft und Steueraufkommen ganz offenkundig einen wesentlich höheren Stellenwert als in der Bundesrepublik, was die Personal- und Sachmittelausstattung deutlich genug erweist. Das Übergewicht deutschsprachigen Materials dabei scheint zu belegen, daß diese Hochschätzung nicht etwa nationalem Antrieb erwächst, sondern vielmehr einem entwickelten, nachahmenswerten Traditionsbewußtsein. Diese ungemein anregende und lehrreiche Studienfahrt verpflichtet uns förmlich dazu, dem Beirat der Archivschule Marburg nahezulegen, im Interesse unserer Nachfolger die diskutierten Kürzungen des Exkursionsetats noch einmal zu überdenken.

Martin Burkhardt, Michael Scholz und Michael Schütz, 29. WK.


 

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