Online-fähige Repertorien?

Einige Überlegungen zur Interaktivität von Archivfindmitteln
von Angelika Menne-Haritz

Erstellt: 4.3.1996
In überarbeiteter Fassung erschienen in: Der Archivar 49.Jg. 1996, H.4, Sp.603-610

Deutsche Zusammenfassung English summary

  1. Anlaß der Überlegungen
  2. Recherechestrategien im Archiv
  3. Zukünftige archivische Repertorien
  4. Analyse und Darstellung der Strukturen des Archivguts auf verschiedenen Stufen
  5. Vorteile von elektronisch aufbereiteten Erschließungsinformationen

1. Anlaß der Überlegungen

Anlaß der folgenden Überlegungen sind die neuen Entwicklungen der Informationstechnologie, die - wie es sich in der rasanten Verbreitung von Online-Kommunikation in kommerziellen oder freien Netzen zeigt - eine wichtige Schwelle auf dem Weg zu bisher ungewohnten Zugangsmöglichkeiten zu Informationen, Zusammenhängen und Beteiligungsmöglichkeiten überschritten haben. Das Internet, Symbol dieser Möglichkeiten, aber doch nur eines unter mehreren solchen Netzen, ist nicht nur das weltweite, riesige Lexikon, sondern eröffnet gerade auch die Möglichkeit, selbst gestaltend einzugreifen und weltweite Wirkung zu entfalten.

Im Internet werden mit der WWW-Technologie Aufbereitungsformen popularisiert, die Auswirkungen auf die Selektionsprozesse der Nutzer haben. Informationen brauchen nicht mehr vervielfältigt und gedruckt zu werden, um bei Bedarf anderen Interessenten zur Verfügung zu stehen. Ihre Auswahl, Konzentration und Detailliertheit bestimmt sich von der Benutzung her, nicht von der Produktion. Die Benutzung kann selektiver werden, Balast vermeiden und dadurch gleichzeitig produktivere Ergebnisse für die Beantwortung der Ausgangsfragestellung haben.

Wesentlicher Bestandteil der WWW-Technologie sind Hypertext-links. Sie ermöglichen es, Zusatzinformationen nach Bedarf aufzurufen oder zu übergehen. Sie erlauben eine Recherchestrategie des "navigierens", die mit der eigenen Fragestellung als Kompaß die Antworten selbst zusammenstellt. Es entsteht eine non-lineare Aneignungsweise, die vom Autor nicht gesteuert werden kann.


Zurück zum Inhaltsverzeichnis

2. Recherchestrategien im Archiv

Viele der Elemente dieser neuen Aneignungsverfahren von Informationen sind kennzeichnend für Recherchestrategien bei der Benutzung von Archivgut, sei es zu wissenschaftlichen Forschungen oder für ein genealogisches oder heimatgeschichtliches Hobby. Was für die Recherche selbst gilt, gilt genauso für die Nutzung der Findmittel, also für die Ermittlungsstrategie von für Ausgangsfragestellungen relevantem Archivgut. Die Ermittlung einschlägigen Materials bei der Nutzung der Findmittel geschieht nicht linear, sondern sie stellt sich die benötigten Erschließungsinformationen nach Bedarf selbst aus dem bereitgestellten Angebot zusammen. Archivische Erschließungsinformationen in der Form von Findmitteln enthalten Informationen über Informierungsmöglichkeiten, nicht die gesuchten Informationen selbst. Sie sind Wegweiser und stellen nur Meta-Informationen als Abbild oder Repräsentation des Archivguts bereit. "Die Repositorien gleichen dem Lande, von dem die Repertorien die Landkarten sind." (Raumer, 1819).

Der alte Begriff des Repertoriums ist den neuen Entwicklungen vielleicht angemessener als seine Eindeutschung zum Findbuch. Denn ihm geht es weniger um die äußere Form, also das Buch, sondern mehr um die Funktion, nämlich ein Hilfsmittel zur Ermittlung von Nachweisen zu sein. Das Repertorium bezeichnet eine Funktion in einer Form, während das Findbuch eine Form, ein Ding, benennt, dem eine Funktion eigen ist. Wenn das lateinische Wort "reperire" ins Deutsche übertragen "wieder zum Vorschein bringen, finden, entdecken, ermitteln, ertappen" bedeutet, dann können Benutzer als "repertores", Erfinder, Schöpfer und Urheber neuer Erkennntnisse durch Interpretation alter Zusammenhänge werden. Mit Hilfe des Repertoriums bekommt Archivgut Gestalt und wird der Interpretation, der Entdeckung neuer Perspektiven und der Ermittlung von unbekannten Aussagen zugänglich. Der Begriff des Repertoriums enthält durch seine Betonung der Funktion weniger Festlegung auf den Bestandsbezug als das Findbuch. Er ist deshalb vielleicht besser für die Umsetzung des Konzepts der Stufenverzeichnung ebenso wie für elektronische, online-fähige Findmittel geeignet. Die Stufe des Einstiegs in die Nutzung der Erschließungsinformationen und ihre jeweilige Zusammenstellung kann und sollte den Benutzern überlassen bleiben und nicht fest vorgegeben werden.


Zurück zum Inhaltsverzeichnis

3. Zukünftige archivische Repertorien

Für die Nutzung der neuen Technologien sollten zwei Voraussetzungen gelten:

- Zukünftige Findmittel sollten sich noch stärker als bisher am Bedarf der Recherche orientieren und den Benutzern den Einstieg in die Bestände so einfach wie möglich machen. Sie sind von ihrem Zweck her output-orientiert.

- Provenienzbezug ist nicht ersetzbar. Seine Gültigkeit hängt nicht von der verwendeten Technologie ab. Provenienz erschwert nicht die Benutzbarkeit, sondern erleichtert sie, indem sie Überblick verschafft, Dimensionen deutlich macht und Interpretationshilfen gibt.

Auf der Basis dieser Voraussetzungen hat die traditionelle archivische Erschließungsmethode zwei besondere Stärken. Sie liegen einmal in der non-verbalen Anschauung über Strukturen, die nicht beschrieben, sondern mit Hilfe der Gliederung dargestellt werden. Die Gliederung zeigt in einer Beständeübersicht als Abbild der Tektonik die Zusammenhänge der in den Beständen repräsentierten Verwaltungsbereiche. Im Findbuch zeigen das Gliederungsschema auf den ersten Seiten als Abbild der Bestandsstruktur ebenso wie die folgende Anordnung der Titel in der entsprechenden Reihenfolge die Zusammenhänge zwischen den Verzeichnungeinheiten, den Akten, Aktengruppen, Serien, Amtsbüchern und z.T. auch, aber selten praktiziert, den Urkunden. Die Struktur kann außerdem - und es wurde in den konventionellen Findbüchern z.T. auch so gehandhabt - in der Anordnung der Titel ausdifferenziert werden, die in ihrer Reihenfolge nicht nur chronologische, sondern auch strukturelle Zusammenhänge und Gewichtungen darstellen, ohne daß dafür in jedem Fall ein Gliederungstitel formuliert wird. Auch die Titel sind Teil der Darstellung der Struktur. Der Titel einzelner Elemente einer Gliederungsstufe beschreibt die mit den Unterlagen ursprünglich beabsichtigte Aufgabenwahrnehmung. Der Enthältvermerk kennzeichnet die tatsächliche wahrgenommene Tätigkeit, in deren Ausführung die Akte entstanden ist. Und weitere Vermerke beschreiben sonstige, nicht über die Tätigkeit zu erschließende Informationsgehalte und -formen. Die Titelbildung kann nur Entstehungszwecke erfassen, nicht aber Inhalte beschreiben, deren Feststellung je nach Fragestellung unterschiedlich ausfallen würde.

Gliederungsübersicht und strukturierte Titelliste sind im Findbuch räumlich getrennt und müssen bei der Einsicht durch die Benutzer zur Übereinstimmung gebracht werden. Das wird z.T. durch Nennung der Gliederungsstufe und der übergeordneten Stufen am Kopf jeder Findbuchseite erleichtert.

Die Gliederung eines Findbuchs oder auch einer Beständeübersicht in Papierform, oft als Inhaltsverzeichnis genutzt, muß jedoch als zweidimensionales Schema für eine sich ständig während des Anwachsens des Bestandes verändernde Struktur über viele Jahre hin gültig sein. Was sie durch Ausweitung an Vielfalt gewinnt, verliert sie gleichzeitig an Präzision des Verweises in einem zeitlichen Querschnitt. Es wird eine größere Flexibilität gebraucht, als sie auf dem Papier erreichbar ist, um die Gliederung der tatsächlichen inneren Struktur besser anpassen zu können.

Findbücher erlauben zum anderen eine non-lineare Nutzung, die eine assoziative und vernetzte Aneignungsweise der in ihnen dargestellten Gegenstände möglich macht. Das ist den Gegenständen, nämlich den dargestellten komplexen Strukturen, besonders angemessen und erleichtert ihr Verständnis. Die non-verbale Anschaulichkeit der Strukturen wird ergänzt durch verbale Erläuterungen von Hintergründen, nämlich zur Behördengeschichte und zum Schicksal des Bestandes, die in der Einleitung wie in einem wissenschaftlichen Aufsatz beschrieben werden, und von dieser äußeren Form her linear gelesen und rezipiert werden sollen. In der Einleitung des Findbuchs können beliebige, bei der Verzeichnung für die Benutzung für relevant gehaltene Informationen untergebracht werden. Die Linearität der Aufbereitung dieser Informationen erfordert jedoch einen Bruch in der Aneignungsweise durch die Benutzer gegenüber der sonstigen anschaulichen Darstellung. Das erschwert die Nutzung der Informationen aus der Einleitung. Je mehr verbale Beschreibung dort angehäuft wird, umso komplexer wird die Handhabung und um so undurchschaubarer wird die Relevanz im Einzelfall der Auswertung. Die Einleitung in ihrer traditionellen Form verlangt von jedem Nutzer des Bestandes, daß er sie von vorn bis hinten durchliest und alles behält, dabei aber schon im voraus das für ihn vielleicht während der Arbeit am Bestand Relevante herausfiltert. Das ist eine strukturell überhöhte Anforderung durch archivischen guten Willen, die mit elektronischen Mitteln reduziert werden könnte, indem die dort festgehaltenen Informationen auf anderem, direkterem Wege verfügbar gehalten werden. Wenn diese Informationen ebenfalls entlinearisiert werden könnten, würde eine integrierte Nutzung der Hintergrundinformationen bei der Recherche nach relevantem Archivgut erleichtert.

Die non-verbale Anschaulichkeit der Zusammenhänge und die nicht-lineare Aneignungsweise archivischer Erschließungsinformationen sind charakteristisch für die Ermittlung von Archivgut für individuelle Fragestellungen. Beides findet bisher seine Grenzen in der Zweidimensionalität der Darstellung von Erschließungsinformationen auf Papier. Zukünftige elektronische Findmittel, also so etwas wie online-fähige Repertorien, könnten diese beiden Aspekte verstärken und ihre Vorteile für individuell gesteuerte Ermittlungsstrategien entfalten. Die Nutzung der durch die Online-Netze popularisierten Technologien eröffnet dazu neue Möglichkeiten.


Zurück zum Inhaltsverzeichnis

4. Analyse und Darstellung der Strukturen des Archivguts auf verschiedenen Stufen

Die Gründe für den nicht-linearen Charakter archivischer Erschließungsinformation liegen darin, daß die Elemente von Archivgutbeständen nicht autonom sind. Es sind keine Einzelstücke, die mit irgendeiner von außen herangetragenen Absicht zusammengestellt wurden. Sie sind vielmehr in mehreren Dimensionen von einander abhängig. Neben einander stehende Elemente erklären sich gegenseitig, indem sie sich von einander abgrenzen. Sie können aber auch Bestandteil einer übergeordneten Struktur sein oder selbst weiter ausdifferenziert werden. So gliedert sich ein Bestand in verschiedene Gruppen von Akten, die ihrerseits Vorgänge umfassen, in denen Schreiben mit unterschiedlichen Funktionen selbst wiederum aus Elementen wie Eingangsdatum, Zuschreibung etc. bestehen. Es bleibt der archivischen Entscheidung bei der Erschließung über die für effiziente Recherchestrategien erforderlichen Informationen überlassen, auf welcher Ebene die Struktur, die "Landkarte" erstellt wird, ebenso wie bei der Beschreibung der einzelnen Elemente etwa die Struktur als Betreff- oder Einzelfallakten die Art der Titelbildung beeinflußt.

Den Ansatz einer gestuften Erschließung auf mehreren Ebenen mit unterschiedlicher Intensität und ohne Wiederholung der Erschließungsinformationen auf tieferen Ebenen führt die ISAD(G) - International Standard for Archival Description (General) - weiter aus. Sie wurde vom Internationalen Archivrat 1992 vorgestellt (vgl. Veröffentlichung Nr. 23 der Archivschule Marburg). Die damit verbundene fachliche Entscheidung über die Art und Menge der für eine Recherche rationellerweise bereitzustellenden Erschließungsinformationen erfordert eine deutlichere Trennung von analytischer Vorbereitung und Entscheidung über den Einsatz verschiedener Methoden von der anschließenden Umsetzung dieser Entscheidungen.


Zurück zum Inhaltsverzeichnis

5. Vorteile von elektronisch aufbereiteten Erschließungsinformationen

Elektronisch in Netzen bereit gehaltene Informationen sollten sich in jedem Fall, um nachgefragt zu werden, durch Zusatznutzen gegenüber den konventionellen Formen auszeichnen. Sie müssen gedruckte Informationen an Qualität und Zugänglichkeit übertreffen, ohne deren Funktionen und Komfort zu reduzieren. Zu den Zusatznutzen gehören, wie an vielen Beispielen bereits zu sehen ist und wie es auch in bibliothekarischen Erfahrungsberichten betont wird, die Interaktivität der Nutzung, die größtmögliche Aktualität, die Schnelligkeit des Zugriffs und die möglichst unproblematische Feststellung der Relevanz.

Online-Repertorien sollten diese Leistungen mit den Funktionen bisheriger Findmittel verbinden:

- Bereitstellung der vollständigen Beschreibungen der einzelnen Elemente mit Titel, evtl. Enthält- oder Darin-Vermerken, Laufzeit und den Kennzeichen oder Bestellnummern der entsprechenden Magazinierungseinheiten. Diese Texte könnten eventuell durch eine Volltextrecherche zusätzlich erschließbar werden, wodurch die Funktion des bisherigen Index gegeben wäre.

- Verdeutlichung der Zusammenhänge der einzelnen Elemente, ihrer Stellung innerhalb der Gliederung und ihre Verbindung zu über- oder untergeordneten Ebenen. Nützlich wäre die Möglichkeit zur Darstellung mehrer zusammengehöriger Titel auf einem Bildschirm ähnlich wie auf einer Buchseite zusammen mit der ausgeschriebenen oder graphischen Angabe der Ebene und der Position innerhalb der Gliederung.

- Lieferung der erforderliche Hintergrundinformation über die Entstehungsstelle und das Schicksal des Bestandes, sowie Begründungen für bestimmte Schritte der Bearbeitung, wie es in konventionellen Findbüchern die Einleitung leistet.

- Komfortable Recherche durch Hin- und Her-Blättern und Verknüpfungen zwischen den drei Bereichen. Hier könnte die interaktive Nutzung einen größeren Komfort bieten als das Papier-Exemplar, wenn nämlich mit Hilfe von Hyper-Links Verknüpfungen hergestellt werden, die ein Nachschlagen wie beim Zurückblättern zur Einleitung ermöglichen. Die Links könnten dort angebracht werden, wo ein Nachschlagen nützlich wäre, also zusätzlich den Hinweis auf eventuelle Relevanz für die Ausgangsfrage geben.

Zusätzlich sollte versucht werden, weitere Informationen, die bisher nicht oder nur rudimentär verfügbar gemacht werden, bei der Auswertung bereit zu stellen. Das betrifft Berabeitungsinformationen, die das Zustandekommen des Bestandes in seiner vorliegenden Fassung deutlich machen, ebenso wie Erläuterungen von Bewertungsentscheidungen. Dazu können auch graphische Darstellungen der Bestandsentwicklung, z.B. der Spaltung und des Zusammenwachsens von Serien gehören, die bisher Benutzern schwer zugänglich zu machen sind. Das betrifft andererseits Informationen über die Entstehungsstelle wie Graphiken über den Organisationsaufbau und die Entwicklung der Behörde, recherchierbare Beamtenlisten, Kopien aus den Akten über die Organisationsentwicklung und die Aufgabenstruktur und nicht zuletzt auch Links zu anderen Informationsanbietern wie der Behörde selbst.

Die Nutzbarkeit könnte durch eine Verfügbarkeit während der Arbeit am Bestand auf Bildschirmen im Benutzersaal verbessert werden, wo ohne Rückwirkung auf das auf dem Server vorrätig gehaltene Original an so vielen Arbeitsplätzen wie nötig vor und während der Arbeit mit dem Archivgut das Repertorium mit den Erschließungsinformationen eingesehen, mit Lesezeichen versehen, unterstichen, umsortiert werden könnte. Für Zitate könnten die entprechenden Passagen und Titelaufnahmen oder Signaturen herauskopiert und in den eigenen Text übertragen werden.

Und auch zur Vorbereitung einer Archivrecherche zu Hause könnten solche Hilfsmittel dienen. Ihr Effekt wäre vermutlich eine Vergrößerung der Benutzerzahlen, die mit weniger Beratungsaufwand bewältigt werden könnte. Findmittel müssen "schlanker" werden, d.h. die Erschließungsinformation muß so präzise wie möglich und so vollständig wie nötig, an dem Ort und zu der Zeit, wo sie gebraucht wird, bereit gestellt werden. Je weniger Ballast durchforstet werden muß, um so genauer und zielstrebiger kann die Forschung arbeiten. Findmittel müssen nutzerorientiert sein.

Das online-fähige Repertorium kann als eine Weiterentwicklung des traditionellen Findbuchs gesehen werden, das wie eine Landkarte jeweils einen Bestand abbildet und die Wege zu den benötigten Nachweisen aufzeigt. Wie eine "clickable map" kann es je nach Bedarf Überblicke oder Details liefern. Es kann Hintergrundinformationen bereitstellen und eventuell Verknüpfungen zu fremden Informationsbeständen geben. Die Idee der Provenienz als Sachgemeinschaft (Brenneke) entfaltet mit diesem Instrumentarium weitere Poteniale, die in der begrenzten Flexibiltät des Papierausdrucks schwer realisierbar sind.

© Angelika Menne-Haritz, 1996



© 2005  Uhde@staff.uni-marburg.de, Stand: 01.07.2001