Der Name "Geschwister Scholl" für die Straße am Ortenberg oberhalb des Hauptbahnhofes in Marburg wird zum ersten Mal im Adreßbuch der Stadt von 1963 aufgeführt. Aber die Straße muß schon um 1960 während der Bebauung diesen Namen erhalten haben.
Hans und Sophie Scholl, Studierende an der Universität in München und Mitglieder der Widerstandsgruppe "Weiße Rose", wurden am 18. Februar 1943 während ihrer spektakulären Flugblattaktion gegen die nationalsozialistischen Machthaber verhaftet. Nach nur viertägiger Haft vom Volksgerichtshof in einem Schnellgerichtsverfahren zum Tode verurteilt, wurden sie, 24- bzw. 21jährig, am 22. 02.1943 durch das Fallbeil hingerichtet.
Die Geschwister-Scholl-Straße ist geprägt durch den Komplex von sieben Studentenwohnheimen, die Studentendorf genannt werden. Ob es eine bewußte Verbindung zwischen Straßenbenennung und Studentenwohngebiet gibt, konnte nicht festgestellt werden.
Durch den Erwerb der Hepp'schen Wiesen, eines 30.000 qm großen Geländes am Ortenberg im Jahre 1960 wurde die Voraussetzung zur Errichtung des Studentenwohnheimdorfes geschaffen. Es entstanden in 3 Bauabschnitten sieben einzelne Wohnblöcke mit 840 Bettplätzen und einem Gemeinschaftshaus. Die Grundsteinlegung zum Studentendorf erfolgte 1961 mit dem Adolf-Reichwein-Haus, das schon im Mai 1962 bezogen werden konnte. Es ist das größte Wohnheim mit 200 Einzelzimmern.
Im zweiten Bauabschnitt wurden bis zum Mai 1963 die Wohnheime Lomonosov-, Wilhelm-Herrmann-, Carl-Ludwig- und Jung-Stilling-Haus bezogen. Mit der Fertigstellung des Franz-Lambert- und des Sylvester-Jordan-Hauses als dritten Bauabschnitt wurde der Bau des Studentendorfes 1965 nach vierjähriger Bauzeit und einem Kostenvolumen von 13,5 Millionen DM beendet.
In jedem dieser Neubauten befanden und befinden sich Fahrstühle, Gemeinschaftsräume, Waschküchen und moderne sanitäre Einrichtungen mit Duschgelegenheit.
Die Namen der Wohnheime wurden vom Vorstand des Studentenwerkes vergeben, der sich aus Professoren und Studierenden zusammensetzt. Die Namensgebung soll bedeutende Persönlichkeiten ehren, die an der Marburger Universität als Professoren gelehrt haben, wie Wilhelm Herrmann (1846-1922), Sylvester Jordan (1792-1861), Johann Heinrich Jung (1740-1817), Albert Kossel (1853-1927) und Franz Lambert (1487-1527). Mit den Namen von Michail Vasil Lomonosov (1711-1765), Carl Friedrich Wilhelm Ludwig (1816-1895) und Adolf Reichwein (1898-1944) wurden auch berühmt gewordenen Marburger Studenten ein Denkmal gesetzt.
Der Bauherr des Studentendorfes war das 1921 auf Initiative von Professoren und Studierenden gegründete Studentenwerk. Vor 75 Jahren wurde es als erstes Studentenwerk in Deutschland mit dem Namen "Studentenheim Marburg e.V." zur Organisation von Verpflegung und Wohnraum für Studierende eingerichtet. Bis zum 2. Weltkrieg verwaltete das Studentenwerk schon 400 Wohnplätze in Häusern am Schloß (Gisonenweg, Ritterstraße). Es ist eine eigenständige Einrichtung, die heute der Fachaufsicht des hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst untersteht.
Mit den 840 Wohnheimplätzen konnte durch das Studentenwerk in der Geschwister-Scholl-Straße das zu dieser Zeit größte Wohngebiet für Studierende einer Universitätsstadt zur Verfügung gestellt werden. Es war eines der ersten Projekte dieser Größenordnung Anfang der 60er Jahre in der Bundesrepublik und galt für andere Stundentenwerke und Städte als Vorzeigeobjekt.
Schon in den 60er Jahren war die Belegung mit einer Person pro Zimmer so modern wie heute. Auch die Einrichtung der Zimmer ließ nicht zu wünschen übrig, so könnte heute der Einbauschrank aus massiven Holz nicht mehr finanziert werden.
Bis 1969 waren in den Wohnheimen männliche und weibliche Studierende getrennt untergebracht, es gab also Männer- und Frauenhäuser. Erst mit den Studentenprotesten und Demonstrationen der 68er-Bewegung wurde die Geschlechtertrennung in den Wohnheimen aufgelöst.

Für die Bewirtschaftung, Instandhaltung und Einrichtung der Gebäude werden heute jährlich vom Stundentenwerk 1,5 Millionen DM ausgegeben. Die Mietpreis pro Monat für ein Zimmer von 11 bis 14 qm beträgt heute mit Nebenkosten (Strom, Wasser, Heizung, Müllabfuhr) und Dienstleistungen (Gebäudereinigung, Bettwäsche, Reparaturen) 265 DM. Die Zimmer sind teilweise mit Balkon und haben eine neu ausgestattete Gemeinschaftsküche. Das Kosselhaus ist Kommunikationszentrum mit Clubräumen, Kneipe, Kiosk, Tischtennis-Halle und Bibliothek. Für jedes Haus ist eine Wirtschafterin als Ansprechpartnerin für die dort wohnenden Studierenden zuständig.
Der Anteil von ausländischen Studierenden aus aller Welt im Studentendorf beträgt 35 %, ca. 100 Austauschstudierende von Partneruniversitäten der Marburger Phillips-Universität sind pro Semester ebenfalls dort untergebracht. Nach ein bis zwei Semester an der Universität in Marburg kehren sie wieder an ihre Heimatuniversitäten zurück.
Besonders fortschrittlich erweist sich die Unterbringung behinderter Studierender, da in Marburg an der Universität bundesweit die größte Anzahl behinderter Studierender eingeschrieben ist. Neben den behindertengerechten Zimmern für seh- und leicht körperlich behinderte Studierende im Umbau des Adolf-Reichwein-Hauses im Studentendorf gibt es ein Behindertenwohnheim mit 81 Plätzen in der Sybelstraße 16, das als Konrad-Biesalski-Haus 1969 bezogen werden konnte. Auch hier war Marburg Vorreiter und beispielhaft in der Art der Konzeption für andere Studentenwerke.

Zusammengestellt von Brirgit Metzing


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